Ich habe mich dazu entschlossen, ein öffentliches Studientagebuch zum Thema Hyperrealität zu führen, um meine Gedanken und Erkenntnisse zu diesem komplexen Feld festzuhalten und eventuell auch mit dem einen oder anderen, den das Thema interessiert, in einen konstruktiven Dialog zu kommen. Dieser erste Eintrag widmet sich meinen Überlegungen im Anschluss an die Lektüre eines aufschlussreichen Textes von Geert Lovink.
Lovinks Text habe ich vor allem im Hinblick auf die Frage gelesen, warum der digitale Raum, wie wir ihn heute kennen, zu einem toxischen geworden ist, in dem es keine „gemeinsam fabrizierte Realität“ mehr gibt und in dem die alten zivilgesellschaftlichen Methoden einer gemeinsamen Realitätsfeststellung nicht mehr funktionieren.
a) Er entlarvt die politisch korrekten Gegenstrategien der Zivilgesellschaft als ein gut gemeintes Simulakrum in einer fragmentierten Öffentlichkeit:
Die These, dass politisch korrekte Gegenstrategien in der fragmentierten Online-Öffentlichkeit zu einer Art gut gemeintem Simulakrum werden, findet Unterstützung in der Beschreibung der aktuellen digitalen Situation als einer „Kultur der tiefen Verwirrung“, die durch „tausend Plateaus“ von Tweets, Blogs und Social-Media-Postings entsteht. In solch einer fragmentierten Landschaft mit einer Überfülle an Produktion kann jede einzelne Stimme, auch die der Zivilgesellschaft mit ihren auf Fakten basierenden Argumenten, leicht zu einer von vielen Meinungen werden.
Der Text deutet an, dass die traditionellen Strategien der „Zivilgesellschaft“ zwar „gut gemeint und mit wichtigen Themen verknüpft“ sind, sich aber „in Richtung eines Paralleluniversums zu bewegen scheinen“. Dies impliziert, dass ihre Bemühungen, Lügen zu entlarven und auf das Faktische zu verweisen, möglicherweise in ihrer eigenen, abgegrenzten Sphäre stattfinden und nicht die breitere, fragmentierte Öffentlichkeit erreichen oder durchdringen, die von anderen Diskursformen, wie den Memes, dominiert wird. In einer solchen Umgebung, in der das „Simulakrum als vorrangige Realität“ erfahren wird, könnten faktengestützte Gegenargumente als ein weiteres Konstrukt unter vielen wahrgenommen werden, was ihre Durchschlagskraft mindert.
b) Die Ineffektivität aufgrund falscher (habermasscher) Taktiken gegenüber „Memes“:
Die Quellen legen nahe, dass die traditionellen Gegenstrategien auch deshalb nicht mehr wirksam sind, weil sie den „ironischen Strategien dieser Kultur der Meme“ nichts entgegenzusetzen haben und möglicherweise auf überholten taktischen Annahmen beruhen.
- Der „rationale, zurückhaltende Ansatz scheitert an den ironischen Strategien dieser Kultur der Meme“. Meme werden als „ikonische Bilder und Slogans“ beschrieben, die Argumente zusammenfassen und schnelle Beurteilungen komplexer Probleme ermöglichen, mit dem Ziel, die öffentliche Debatte zu „beschleunigen und überflüssig zu machen“. Dies steht im Kontrast zu den oft differenzierten und auf Fakten basierenden Argumenten, die von der Zivilgesellschaft vorgebracht werden.
- Die Quellen problematisieren die Relevanz der „bürgerlichen öffentlichen Sphäre“ nach Jürgen Habermas im Internetzeitalter. Die Vorstellung einer Arena des rationalen Dialogs, die auf einem nationalen Konsens beruht, ist im fragmentierten und von nutzergeneriertem Content (wie Memes von Plattformen wie 4chan, Reddit und YouTube) geprägten Internet nicht mehr realisierbar.
- Die Prä-Internet-Generation war darauf trainiert, Quellen zu hinterfragen und Ideologien zu dekonstruieren. Heute gehe es jedoch primär um die Produktion eigener Inhalte, wie Antworten, Blogposts, Social-Media-Updates und Bilder. In dieser Logik der schnellen Produktion und Verbreitung von oft vereinfachten Botschaften (Memes) haben langsame, analytische Gegenargumente, die auf faktischer Richtigstellung basieren, einen schwereren Stand.
- Der Text fragt explizit, ob man die Meme ignorieren oder ihre „Kulturtechniken kopieren“ sollte, um das Unbehagen in andere Bahnen zu lenken. Dies deutet darauf hin, dass die bisherigen Strategien, die Meme zu ignorieren oder mit rationalen Argumenten zu konfrontieren, als unzureichend betrachtet werden.
Zusammenfassend lässt sich nach der Lektüre dieses Textes sagen, dass die traditionellen Gegenstrategien der Zivilgesellschaft in der aktuellen digitalen Hyperrealität sowohl durch die Fragmentierung der Öffentlichkeit, die sie zu einer Stimme unter vielen macht, als auch durch ihre taktische Unterlegenheit gegenüber der dominanten Meme-Kultur in ihrer Wirksamkeit stark eingeschränkt sind. Sie operieren möglicherweise in einem isolierten Diskursuniversum, das niemanden mehr interessiert – jedenfalls nicht mehr als jede andere isolierte Realität.