Oktober 3, 2021

Erinnerung ist unsere Superkraft

Es gab einmal den "Sendeschluss"? Warum der grauenhaft langweilig war, trotzdem hilfreich und heute nötig ist, darum gehts hier.

Erinnerung ist unsere Superkraft

Zu Beginn meiner Arbeit an diesem Post vermute ich, dass es drei Möglichkeiten gibt, wie Ihr auf diesen Blogbeitrag reagiert:

  • Ihr verbucht ihn als nostalgische Schwärmerei.
  • Ihr klassifiziert ihn als konservativ und reaktionär.
  • Ihr meint, dass ich endlich mein wahres Gesicht zeige, das des Jugend-(Medien-)Verächters.

Alle drei Optionen haben durchaus eine gewisse Berechtigung. Denn ich beginne mit einer nostalgischen Rückschau auf meine Jugend, erzähle Euch anschließend, was wir aktuell alle falsch machen, und räsoniere zum Schluss über die (vermeidbaren) schädlichen Auswirkungen einer amoklaufenden Aufmerksamkeitsökonomie, deren Opfer vor allem Digital Natives sind, weil die alten Säcke Ihren Job nicht machen.

Wer das bis zum Schluss aushält, stimmt mir (das ist die bisher unerwähnte weil unwahrscheinliche Option 4) am Ende vielleicht zu.  Aber eins nach dem anderen.

Früher war alles besser

Bis 1984, in manchen Sendern bis 1994, gab es im deutschen Fernsehen einen "Sendeschluss". Das heißt, wer nach den 80ern geboren ist, hat vermutlich keine Ahnung wovon ich  rede. Deshalb hier zunächst einmal ein paar visuelle Impression dieses Begriffs aus der Wikipedia.

Diese Bilder sah man im deutschen Fernsehen, wenn das Programm zu Ende war, sprich: nichts mehr kam. Also wirklich nichts. Gar nichts. Nicht mal Bernd das Brot. Höchstens ein Piepton. Radio gab es natürlich noch, aber selbst da wurden alle Sender zusammengeschaltet und nur einer von denen übernahm das harte Brot des Nachtprogramms. Und wenn das der Bayrische Rundfunk war, war die Nacht endgültig gelaufen. Ich war dem kalten, nackten Licht der Neonröhre in der Küche oder der Sterne im Garten ausgeliefert.

Digital-Detox Aficionados können sich schon denken, worauf ich mit diesem Rückblick hinaus will: früher hatten wir fast nichts, aber wir hatten immerhin Pausen. Vom Gebrabbel, Geblubber, Geflimmer professioneller Content-Lieferanten. Leicht war das nicht.

Aber wie haben wir's gehasst

Denn natürlich fand ich es grauenvoll. Nicht unbedingt als Kind. Ich hatte eine sehr deutsche GenX Kindheit: 18 Uhr Abendessen, 19 Uhr ZDF "heute", irgendeine Serie bis viertel nach acht, ab ins Bett, 9 Uhr Licht aus. Am Wochenende vielleicht mal "Wetten Dass". Unter der Woche später Denver Clan. (Die Älteren merken schon, wir waren eine Außenseiter Familie: ZDF Staatsmedium und "Denver Clan" statt "tagesschau" und "Dallas".) Das Testbild habe ich als Kind nie gesehen. Als Teenager auf dem Land dann schon. Ich weiß noch genau, wie sehr es mich genervt hat. Mit dem Testbild endete quasi das Leben. Denn was blieb mir dann noch? Lesen? Tat ich ohnehin den ganzen Tag. Masturbieren? Auch. Telefonieren? Viel zu teuer. Also konnte ich eigentlich nur Denken oder Träumen. Ununterbrochen, unangeleitet, im Fluß. (Meine Eltern waren ohnehin um 23 Uhr im Bett.) Natürlich erschien mir das unerträglich langweilig. Aber, mangels Auswahl begann ich irgendwann das Beste daraus zu machen.

Doch irgendwie wars auch geil

Ich habe über mein Leben nachgedacht und von den Mädchen, die ich nicht küssen würde, geträumt. Ich habe kleine Geschichten geschrieben, auch Tagebuch, dem Wind im Garten zugehört, ab 14 heimlich hinter dem Haus geraucht.  Ich war wahnsinnig froh, als es vorbei und ich irgendwann mobil genug war, um mich nachts mit anderen an der Tankstelle zu betrinken, aber ich habe, wie Hartmut Rosa sagen würde, in dieser Zeit gelernt, in Resonanz zu treten. Mit mir und der Welt. Wir waren einfach beieinander, ohne Ziel, ohne Sinn und ohne Störung. Stundenlang. Nächtelang. Wochenlang nächtelang. Und das endete letztlich in einer Gewohnheit, die ich nie wieder verloren habe: mir Zeit zu nehmen, frei zu denken, zu träumen ohne Ziel, zu imaginieren ohne Business Plan. Der Zwangs-Schluss war mein Habit-Builder geworden, der selbst dann noch wirkte, als es schon keinen Sendeschluss mehr gab. Zum Beispiel während des Studiums, als ich nachts zum Denken unter die Sterne, auf das Dach vor mein Zimmer geklettert bin und erst bei Sonnenaufgang zurück. Oder heute, wenn ich morgens um 5 oder 6 (ja, ich bin eine Lerche, keine Nachtigall) in der Küche sitze und nichts tue. Nichts höre. Nichts sehe. Also nichts, was bewusst zum Sehen geschaffen wurde, kein Insta, kein YouTube, Netflix, Apple TV, Disney+ oder Prime.

Und verdammt hilfreich

Was daran jetzt so toll ist? Die Sache an sich nicht unbedingt. Natürlich genieße ich manchmal die Langeweile, weil ich sie mir zu eigen gemacht habe. So wie ich Kaffee mag, obwohl er bitter ist. Beides sind lebenslange Gewohnheiten. Aber andererseits liebe ich einen ordentlichen Schuss Dopamin, Oxytocin oder Adrenalin genauso wie jeder von uns. Ich schätze laute Action-Filme, positiven Projektstress, Partys, Sex, einen aggressiven Twitter-Thread, meine LinkedIn Likes oder einen Samstagnachmittag in der Stadt. Aber ich weiss auch, dass ich nur gut leben kann, wenn es eine Chance gibt, dass das aufhört,  dass ich dem ein Ende setzen kann. Wenn mir das über längere Zeit nicht gelingt, wenn ich keine Ruhe finde, bin ich nicht das, was ich sein kann. Ich bin eine schlechte Version meiner selbst. Ich bin dann nicht nur unleidlich, asozial, aggressiv wie Ulf Poschardt -  ich bin dann vor allem eines nicht: ich bin nicht mehr kreativ. Mir fällt nichts mehr ein. Mein Gehirn ist wie vernagelt, meine Einbildungskraft beschränkt sich auf das Erfinden von Beleidigungen für meine Mitmenschen. Ohne Muße, Ruhe, Langeweile gibt es keine Kreativität. Bei mir nicht und bei den meisten anderen Menschen auch nicht. Hier eine kleine Leseliste dazu:

Der Unterschied zwischen damals und heute ist allerdings ein bedeutender. Denn früher bekam ich diese Zeiten, den Sendeschluss, umsonst geliefert. Heute muss ich darum kämpfen. Denn eigentlich will niemand, dass ich aufhöre zu tun, zu gucken, zu lernen, um statt dessen ohne Hilfsmittel zu denken und zu träumen. Alle wollen meine Aufmerksamkeit, 365/24. Weil sie nur dann an mir Geld verdienen. Die Plattformen, Produzenten und Provider. Selbst die, die mich lehren wollen, das zu tun, was ich schon kann: die Habit-Tracker Apps, die Awareness-Podcaster*innen und Achtsamkeits-Coaches. Aber ich für mich persönlich kann sagen: ich brauche Euch nicht, ich gewinne den Kampf immer noch oft und  leicht alleine. Ich bin das gallische Dorf der Resonanz, weil ich einen starken Verbündeten habe: meine Erinnerung und meine Gewohnheiten. Ich bin stärker als die Ablenkung, als FOMO und die Aufdringlichkeit meiner Smartphone-Benachrichtigungen.

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Aber sowas gibts heute ja gar nicht mehr

Natürlich würde ich  genau an dieser Stelle gerne einen Generationenkonflikt konstatieren, aus dem das imaginäre "Wir" der Boomer und GenXer siegreich hervorgeht.  Ätsch-Bätsch, wir können was, was Ihr nicht könnt. Langeweile ist unsere Superkraft. Deshalb sind wir klüger, schöner und potenter. Allerdings wäre das schlicht und einfach gelogen. Aus eigener Beobachtung in meinem Freundeskreis weiß ich, was Statistiken belegen: alternde Menschen sind fast genauso unfähig, inhaltlose Zeit auszuhalten, wie junge.

"67 Prozent der 30- bis 49-Jährigen und 77 Prozent der 18- bis 29-Jährigen wollen mit dem mobilen Begleiter Wartezeiten überbrücken und sich unterhalten lassen ..." https://www.presseportal.de/pm/56051/4229035

Die zehn Prozent machen den Kohl nicht wirklich fett und die verbrachte Zeit nicht wirklich besser. Wir kleben anscheinend alle im Netz, generationenübergreifend. Als Role Model ist meine Generation  - mal wieder - ein Reinfall. Aber warum?

Und wir sind auch noch selber daran schuld

Nun ja, zum einen, weil wir den Algorithmen genauso ausgeliefert sind, wie alle. Es ist unglaublich, wieviel Geld und Intelligenz unsere Gesellschaft bzw. die GAFA in das Ziel stecken, uns alle vor die Zwergglotzen zu bannen. Dieser Ausschnitt aus "The Social Dilemma" (einem Film, den ich sehr empfehle) erklärt das sehr schön.

Man sieht, der Kampf ist wirklich kein fairer.

Ein genauso wichtiger Grund ist meiner Meinung nach aber, dass ältere Menschen einfach nicht zugeben wollen, dass sie manches dessen, was die Jüngeren tun, einfach nervtötend, dumm und gefährlich finden.

Ich meine, ich komme aus dem Marketing und ich war mehrmals fast bereit zu bestätigen, dass TikTok cool ist, dass es dort interessante kreative Impulse gibt und dass man die Plattform kennen und nutzen muss, wenn man modern und up-to-speed sein will. Tausend LinkedIn- und Social Selling-Berater können ja nicht irren, oder?

Aber, wenn Ihr mich in einem ehrlichen Moment erwischt, würde ich Euch sagen, dass das Medium eine dermaßen unterkomplexe Version von Kreativität und Storytelling promotet, dass ich selbst die Morgenroutinen im Orang-Utan-Gehege des Kölner Zoos inspirierender finde. TikTok ist einfach nur eine Gelddruckmaschine, die absolut flache Witze mieser Comedians in goldfischgehirnkompatible Pieces zerlegt, die so schnell aufeinanderfolgen, dass man keine Chance hat abzuschalten, bevor einen die Werbung erwischt.

Aber, und hier sind wir beim Kern des Posts, ihr erwischt mich - bis heute - ja nie in einem ehrlichen Moment. Wie die meisten habe ich zu viel Angst, alt zu wirken, langweilig, uninteressant und uncool, um meine Meinung nicht nur zu äußern, sondern sogar in Aktion zu treten. und mache mich damit zum Komplizen eines Systems, das meine Kinder frisst.

Denn TikTok ist nur die Spitze des Eisbergs einer digitalen Plattform-Ökonomie, die ein einziges Ziel hat: unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen, um uns Scheiß zu verkaufen. Natürlich lebt sie auch von Kreativität. Irgendwer muss den Kram ja herstellen, den wir uns ansehen. Und wenn die Konsumenten das selber machen, ist es perfekt profitmaximierende, weil meistens unbezahlte, Arbeit, die zudem von vorneherein vergiftet ist. Die Kreativität, die wir dort einsetzen, ist niemals frei, sondern passt sich den Regeln der Plattformen an, die alle nur ein Ziel haben: jedes Quartal ein paar Milliarden Dollar an wenige Shareholder auszuschütten. Damit sind wir, als Creator wie als Nutzer, einfach nur postindustrielle Leibeigene eines digitalen Feudalsystems, das uns in einem endlosen Teufelskreis aus immaterieller Produktion und Konsumption gefangen hält. Einem Teufelskreis, der uns unsere kostbarste und definitiv endliche, Ressource nimmt: Zeit - für uns, für andere, für die Rettung der Welt.

Haben es aber immer noch in der Hand

Wer in das System hineingeboren wurde, dem kann ich nicht übelnehmen, dass er mitspielt. Genauso wenig, wie ich meiner Tochter vorwerfen kann, dass sie keine andere Kanzlerin als Merkel kennt. Aber uns, den Testbild-Kindern, kann ich  vorwerfen, dass wir das unwidersprochen hinnehmen. Wenn wir nichts sagen, weil wir glauben "Digital Native" zu sein sei kein Fluch, sondern eine Auszeichnung, weil wir jung wirken wollen, Angst vor Kritik und Häme haben, dann machen wir uns zu Mitschuldigen eines Systems, das Demokratien zerfrisst, materielle Ungleichheit fördert und Millionen Menschen in den Burnout treibt. Es ist unsere verdammte Verantwortung, daran zu erinnern, dass ein anderes Leben möglich ist, weil wir uns noch daran erinnern. Nicht nur Eigentum, auch Vergangenheit verpflichtet. Zumal viele in meinem Alter auch noch Geld und Macht genug haben, um etwas zu ändern. Es gäbe so viele Möglichkeiten, das System zu reformieren. Das Center for Humane Technology (von dem auch der Film "Social Dilemma" ist) listet eine ganze Reihe von Möglichkeiten für Reformen auf, die sinnvoll sein könnten. Und ich selber träume seit einiger Zeit von einer Aufmerksamkeitssteuer für Medien-Konzerne, die Werbung auf die gleiche Weise verteuert, wie CO2-Abgaben klimaschädliches Verhalten unprofitabel machen. (Gruß an die Kollegen vom BVDW 😉 ) Ach, wie gerne würde ich das Gesicht von Zuckerberg sehen, wenn das Gesetz durch den Kongress, die Duma, den Bundestag kommt 😎

Aber bevor so etwas passieren kann, müssen wir etwas verändern, etwas bewegen und vorantreiben. Und da sehe ich uns, meine Generation in der Pflicht.  Und wir sollten dieses Thema deshalb ebensowenig den jungen Menschen überlassen, wie wir angesichts des Klimawandels unter dem Motto "Nach uns die Sintflut" handeln können. Wir haben die Verantwortung, wir haben die Mittel und wir haben, sorry, pathetisch, die Superkraft, nämlich unsere Erinnerung an die Kraft der Langeweile. Wir wissen, dass Testbilder nicht das Ende der Welt sind und dass es frei und zufrieden machen kann, alleine zu sein und ohne Input. Früher war definitiv nicht alles besser, um Gottes willen, aber aus der Vergangenheit lernen lässt sich allemal. Doch nur wenn wir uns trauen zurückzuschauen und darüber zu reden.

Wenn wir dieses Potenzial nicht nutzen, weil wir Angst haben, uncool zu sein, alt, rückwärtsgewandt, dann sind wir nicht jung, junggeblieben oder am Puls der Zeit, sondern nutzloser Ballast auf den Schultern einer Alterspyramide.

PS: Übrigens soll dieser Post keine Ausrede für diejenigen sein, die jegliche Form digitaler Kreativität ablehnen, einfach weil sie zu ihrer Zeit noch nicht erfunden waren. Diese Zeitgenossen sind meistens nur zu faul, sich damit auseinanderzusetzen. Was ich von meiner Generation will, ist keine pauschale Ablehnung sondern kritisches Hinterfragen vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen. Das ist Arbeit, sicher. Aber das können wir doch, oder?